Heute lag eine Rechnung im Briefkasten: die EINE Rechnung. Es war die Rechnung meines Anwalts, die ich bereits erwartete, also keine Überraschung. Das Unerwartete daran war jedoch, dass sie 3 mal so hoch war, wie besprochen. In dem Moment, als ich den Gesamtbetrag sah, wusste ich, dass ich sie nicht auf ein Mal begleichen könnte.
Eine kindliche Reaktion setzte ein: ich weinte. Das haltlose Weinen war ein Moment der Schwäche, in dem mein logisches Denken aussetze.
Wie bei einem Kind. Ich wusste und wollte in diesem Augenblick keine Lösung. Ich wollte mich einfach nur hingeben. Ich fühlte mich elend. Das tat gut. Es war eine Erleichterung und ich atmete durch.
Darauf setzte mein Verstand seine Zahnrädchen in Gang und eine innere Stimme sagte: “Du bist eine Versagerin, weil du das nicht auf einmal bezahlen kannst, du bist naiv und unkonzentriert, du hast der Anwältin nicht richtig zugehört, du hast etwas falsch verstanden, als es um die Kosten ging.”
Weinen konnte ich nicht mehr. Die Gedanken in meinem Kopf machten mich schwach. Ich saß wie gelähmt da und glaubte ihnen, meinem rotierenden Verstand, im ersten Moment einfach alles. "Ja, ich habe versagt", tönte es in mir.
Auch die Lähmung, die damit einherging, ließ ich zu und ging durch den leisen Sturm der Gefühle hindurch. Ich ließ die Stimme auf mich einreden. Ich wartete ab, es dauerte ein wenig und es zog vorbei.
Nach diesen Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, wurde mir wieder bewusst, dass diese Stimme nicht recht haben könnte. Ich fühlte, wie Klarheit sich mehr und mehr in mir ausbreitete.
Dann fragte ich einfach nur: Was ist jetzt der nächste logische Schritt? Was kann ich tun, damit etwas in Bewegung/Lösung kommt?
Ich brauchte mehr Klarheit für einen Aktionsplan. Ich setzte mich hin und sortierte meine Ideen. Es lief auf ein Telefonat mit der Anwältin hinaus. Sofort schrieb ich eine E-mail und bat um einen Rückruf. Innerlich bereitete ich mich auf das Telefonat vor.
Währenddessen erlaubte ich es mir, alle Fragen in großer Ruhe und Klarheit für mich auszusprechen. Mein Ziel war Folgendes: ich wollte verstehen und wissen, was als nächstes zu tun war. Ich gab meine Zweifel, Bedenken und Unsicherheiten zu, stellte alle Fragen, die noch offen waren.
Am Ende verlief das Telefonat sehr gut. Ich wusste genau, was als Nächstes zu tun war und ich hatte gut für mich gesorgt. Die Schwäche war von selbst gewichen und ich spürte eine lebendige Kraft in mir.
Schwäche hatte sich in Klarheit gewandelt. Doch ich musste feststellen, dass nicht nur mir solche Geschehnisse widerfuhren. Da gab es auch andere Menschen, denen es ähnlich erging...
Vor kurzem hatte ich ein langes Gespräch mit einem guten Freund, Gunnar. Er war einer dieser Freunde, die vor 25 Jahren während des Studiums, ein enger Teil meines Lebens gewesen waren und der auf einmal wieder aus dem Nichts aufgetaucht war. Wir hatten beide das Gefühl, als hätten wir uns erst gestern gesehen und konnten endlos viel miteinander lachen. Nach so einer langen Zeit gibt es viel aufzuholen. Viel zu erzählen.
Er hatte sich getrennt, ich hatte mich getrennt. Doch bei ihm lag die Trennung erst wenige Monate zurück und er war danach in ein dunkles, tiefes Loch gestürzt. Eigentlich das Übliche. Doch für ihn schien es ein unüberbrückbar großes und weites psycho-emotionales Loch.
Ich sah ihn an und sagte: “Du darfst jetzt einfach schwach sein. Es darf einfach so sein. Nichts ist falsch an dir.”
Er sah mich mit seinen großen, grünen Augen an und ich konnte in ihnen Wort für Wort lesen, was er dachte. Hauptsächlich drehten sich seine Gedanken um Scham und Gesichtsverlust. Sein Lebensplan war nicht aufgegangen und er kämpfte bereits seit 7 Monaten darum, wieder zu Kräften zu kommen, etwas Neues zu kreieren, sich abzulenken, sich zu beschäftigen, den Kopf über Wasser zu halten. Ohne zu merken, dass dieser eigentlich kurz vorm Durchdrehen war, weil er vor negativer Gedanken fast platzte.
Was würde geschehen, wenn er für einen Moment losließe?
Der Kopf würde zuerst untertauchen. Vielleicht würde er von einer Welle mitgerissen oder etwas ins offene Meer getragen werden. Doch dann würde in kürzester Zeit sein Kopf wieder auftauchen und er würde beginnen an Land zu schwimmen.
Es lag in seinen Händen.
Es war seine Entscheidung. Nur seine.
Niemand konnte das für ihn übernehmen.
Traurig sah er mich an und sagte: “Das schaffe ich nicht.”
Es gibt Tage, an denen fühle ich mich schwach, zerbrechlich und verletzlich. Oft, wenn ich das Leben anderer Menschen um mich herum betrachte, erkenne ich, wie wenig ich leiste, wie wenig ich bin.
Ich meine damit nicht das Gefühl von Wertlosigkeit oder fehlendem Selbstbewusstsein. Es ist mehr wie ein Moment der distanzierten und nüchternen Bestandsaufnahme.
Selbst die Herausforderungen des Tages erdrücken mich manchmal und ich bekomme das Gefühl, ich kann das, was mich erwartet nicht meistern.
Jeden Monat gibt es ein paar Tage, an denen ich das Gefühl habe, die ganze Welt ist gegen mich.
Ich denke, ich spreche da für alle von uns. Immer wieder kämpfen wir gegen ein unsichtbares Etwas, das weder greifbar ist, noch zur Seite weichen will. Es ist einfach da und scheint unbesiegbar.
Ich weiß nicht, wie es mit dir spricht, doch es sagt mir Sachen, wie: “Das, was du machst ist nur Humbug, es lohnt sich nicht, du wirst es nicht schaffen, du bist nichts wert.”
Zu Gunnar sagt es bestimmt so etwas wie: “Du Loser, du bist der totale Verlierer. Du wolltest Kinder und eine Familie haben. Und jetzt stehst du mit nichts da. Nicht einmal das hast du hinbekommen.”
Diese kleinen Monster haben viele Stimmen, beherrscht viele Sprachen und formen die einzelnen Sätze immer wieder neu, formen sie um. Sonst wäre es zu langweilig. Im Extremen rufen diese riesigen Monsterstimmen in uns hervor, so dass wir uns nicht nur schwach, sondern nichtig fühlen.
Mir geht es heute vor allem um die Frage: “Wie kann ich Schwäche zulassen?”
So als hätten sie, diese Monster, im Club Radau gemacht und würden von zwei opulenten Türstehern unwillig zur Tür geleitet, inklusive Hausverbot. So gerne hätte ich, dass sie die Bühne meines Lebens einfach so verlassen.
Diese Stimmen machen uns schwach, können uns zu Opfern machen.
Heute möchte ich dem nicht auf den Grund gehen, warum diese kleinen Monster da sind. Denn das liegt auf der Hand: Konditionierung, Imitation, Ahnen, usw.
Viel ziehlführender ist es, folgende Aspekte genauer zu betrachten: Dem langen Fortbestehen dessen, was uns klein macht auf den Grund gehen und verstehen lernen, dass dir und mir seit dem Zeitpunkt der Geburt das Opfersein, Schuld und Scham mit auf den Weg gegeben wurden - durch Religion und Geschichte, die Gesellschaft und das Verhalten der Menschen an sich.
Zudem haben “Schwäche” und “Schwachsein” nach wie vor bei Männern mehr als auch bei Frauen ganz schlechte Karten und sind gesellschaftlich definitiv nicht anerkannt.
Wenn etwas in uns überzeugt und erfasst vom Gefühl der Scham ist, geht es von da an bergab mit der inneren Welt der Gedanken uns selbst gegenüber. Es fängt also in uns selbst an.
Wir haben Angst vor dem Gefühl des Scheiterns, vor einem Gesichtsverlust. Das ist vor allem bei Männern sehr präsent.
Dieser fast unmerkliche, unbewusste Kampf gegen uns selbst wird noch befeuert durch herkömmliche Medien, Social Media, Filme und zum Teil sogar durch Bücher. Und er wird befeuert durch den Vergleich.
“Wenn du das Gefühl der Schwäche in dir verstärken möchtest, dann nimm noch eine Prise von Vergleich hinzu.”
Jetzt denkst du vielleicht: auf der Einen Seite spricht sie davon, dass man den inneren Stimmen den Ausgang weist und auf der anderen Seite soll ich mich immer wieder dem Schwachsein hingeben? Das ist doch nicht logisch!
Denkst du...
Und ja, du hast recht. Auf den ersten Blick erscheint es vielleicht gegenläufig und unstimmig. Doch wenn du genauer hinsiehst, macht es vollkommen Sinn.
Durch die Erlaubnis schwach sein zu dürfen, lädst du die Monster gar nicht erst auf deine Party ein. Sie bekommen keinen Zugang zu deinem Wohnzimmer, zu deinem Inneren mehr. Doch wenn sie bereits da sind, musst du sie erst einmal ausladen.
Wenn ich es mir erlaube, mich einmal schwach zu fühlen, keine Antwort zu haben, nicht sofort die Lösung zu kennen, eine Pause zu machen, länger zu schlafen, forciere ich nichts mehr und ich ändere meine bisher gültige Gewohnheit: durchziehen zu müssen, dranbleiben zu müssen, funktionieren müssen.
Ich habe versucht für mich herauszufinden, was dem, ich nenne es “alten Prinzip”, gegenüber stehen kann. Für mich sind es: Mut, Tatkraft, Willensstärke und Entscheidungsfreude - Bravery. Es braucht Mut, die Dinge anders zu machen. Wir müssen die Dinge in die Tat umsetzen, wenn wir uns entscheiden und losgehen wollen.
Es ist in unserer heutigen Zeit in Vergessenheit geraten, so als wären die Schleier des Vergessens darüber gelegt worden, dass wir mit den Unterstützern Mut, Willensstärke und Tatkraft unser Leben in die Hand nehmen können.
Jede und jeder von uns kann sich diese Eigenschaften wieder zu eigen machen. Sie müssen nicht erlernt werden, denn sie sind nicht neu. Sie waren immer da, nur wenig genutzt. Jetzt dürfen sie wieder trainiert werden.
Wenn wir bereit sind, unsere Augen, Ohren, Körper, Sinne weit aufmachen, sind wir befähigt, neue Wege zu gehen.
Einen weiteren Gedanken möchte ich noch mit dir teilen: Der Moment, in dem du loslässt und das Gefühl der Schwäche mehr aufsteigen lässt, kann Ängste mit sich bringen. Angst kreiert das Gefühl, die Herausforderungen des Lebens und des täglichen Lebens überhaupt nicht mehr meistern zu können.
In diesem Augenblick darfst du dir gewiss sein, dass Mut und Willenskraft deine Begleiter sind und dich für diese Zeit durch das Tal auf die Bergspitze führen.
Wenn du ganz darauf vertraust verletzlich und geschwächt sein zu dürfen, dann durchbrichst du den Kreislauf von: Schwäche erzeugt Angst, Angst befeuert Schwäche, Schwäche erzeugt noch mehr Angst und Angst potenziert die Schwäche.
“Verletzlichkeit gewinnt. Sie löst die defensive Haltung und den inneren Widerstand im Nichts auf.”
Du fragst dich jetzt auf einer tieferen Ebene: wie komme ich aus dem Kreislauf raus?
Wir nehmen den Zustand von Schwäche oder Angst als etwas Festes, Unveränderbares und Gegebenes an und verlieren das Gefühl dafür, dass diese Gefühle vorübergehend, also fließend sind.
“Ich durfte feststellen, dass wir zu jedem einzelnen Zeitpunkt unseres Lebens zu viel mehr in der Lage, als wir es glaubten zu sein. Das ist mehr als befreiend.“
Es geht nicht mehr darum, die Momente der Schwäche zu bekämpfen, zu besiegen oder zu überwinden.
Alles dreht sich jetzt darum, diese zu integrieren und durchzulassen. Klare Entscheidungen helfen dabei, dass es schneller geht. Das ist ungewohnt, sehr ungewohnt.
Es existiert keine Fortbildung, die uns auf das Leben und die Gefühle und Zustände des Lebens vorbereitet. Wenn es so etwas geben würde, hätten wir einen super zuverlässigen und prall gefüllten Werkzeugkasten an der Hand, um mit Herausforderungen und zugleich den Zuständen der Schwäche viel einfacher und selbstverständlicher umzugehen.
Das Leben begegnet uns mit Herausforderungen. Je größer diese sind, desto mehr Unsicherheit ist da. In den vergangenen 200 Jahren sind wir den Herausforderungen wie ein Krieger begegnet. Vielleicht darf das jetzt anders werden?
Vielleicht ist es immer noch das Sinnbild eines Kriegers oder einer Kriegerin. Jedoch ein Krieger, der seine Waffen auf anderer Ebene bereit hält. Ein Krieger, der sehr weise und überlegt handelt. Ein Krieger, der nachgibt, weich wird und sich dem hingeben kann, was ist. Der weise, hingebungsvolle Krieger ist neu für uns, denn er ist nicht in Aufruhr, er ist nicht auf Adrenalin und Cortisol aus. Er strebt nach Ausgleich und Balance. Das ist wirklich neu.
Die Akzeptanz von Schwäche ist ein Zustand, den wir üben dürfen. Noch ist nichts davon natürlich für uns. Jahrzehnte- nein, Jahrhundertelang wurden wir darauf getrimmt durchzuhalten, es durchzuziehen, die Zähne zusammen zu beißen und hart und stark zu sein.
Eine neue Ära beginnt. Und um diese einzuleiten, habe ich dir ein paar Stichpunkte aufgeschrieben, die dir auf dem Pfad der Verletzlichkeit ein Begleiter sein können, vor allem dann, wenn die Situation ausweglos erscheint und du z.B. eine Entscheidung treffen musst:
Lerne so deine persönlichen Entscheidungskreisläufe kennen.
Du bist nicht falsch und du musst nichts neu lernen. All diese Konzepte sind bereits in dir angelegt. Sieh hin und erkenne, dass du anders agieren kannst, als bisher gewohnt. Und das ist noch ein wenig ungewohnt.
Wenn du auf dem StandUp-Paddling Board stehst und bisher auf einem ruhigen See gefahren bist und auf einmal dein Board mit auf das offene Meer nimmst, dann stehst du wieder ganz am Anfang. Die Strömungen sind da, die Wellenbewegungen, die Winde. Alles ist neu und ungewohnt. Doch du kannst lernen, dich anpassen, verändern. Wenn du es willst.
Die Zeit ist jetzt reif dafür.
Reif für diese Veränderung.
“Sieh hin und erkenne, wie stark du bist, wenn du schwach bist.”
Kein Widerspruch mehr, sondern wahr.
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